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Dr. Viktor Agartz (Volkswirtschaftler) 1946 - 1947 Leiter des Wirtschaftzentralamtes / Verwaltungsamt für Wirtschaft in Minden (Vorgängerbehörde des Bundeswirtschaftsministeriums), bis Mitte der 50er Jahre führend beteiligt am Wiederaufbau der Gewerkschaften in der Bundesrepublik.
Foto: DGB, Düsseldorf Dr. Viktor Agartz (1950)
Straße am Mindener Simeonsplatz nach Viktor Agartz benannt Wiedergutmachung nach Jahrzehnten des Schweigens Im Dezember 2004 beschloss der städtische Ausschuss für Bauen Umwelt und Verkehr (BUV), eine neue Zufahrtsstraße zum Simeonsplatz nach Viktor Agartz zu benennen. Der ehemalige SPD-Wirtschaftssprecher war 1946 in Minden von den Engländern zum Leiter des Zentralamts für Wirtschaft (ZAW) ernannt worden. Bei dieser Behörde handelte es sich um „eine Art Wirtschaftsministerium für die britische Zone“ (Rundfunkrede Agartz). Nach der Gründung der Bizone (verwaltungsmäßige Zusammenlegung der amerikanischen und britischen Besatzungszonen) rückte das ZAW unter dem neuen Namen Verwaltungsamt für Wirtschaft (VAW) zum deutschen Leitungsgremium für beide Wirtschaftsgebiete auf. Das VAW hatte seinen Hauptsitz am Simeonsplatz (Block A und K, sowie Defensionkaserne, heute Preußen Museum) und weitere Abteilungen im Melittawerk an der Ringstraße, in der Mudra Kaserne an der Ringstraße und in der Beseler Kaserne an der Pionierstraße. Agartz wurde von den Länderwirtschaftsministern der Bizone zum Leiter des VAW gewählt. Eine Zusatztafel am Straßenschild erinnert mit folgendem Text (BUV-Beschluss) an diese Ära: „Dr. Viktor Agartz, geb. 1897, gest. 1964, Leiter des Zentralamts für Wirtschaft, bis 1947 in Minden.“ (Siehe MT vom 17. Dezember 2004)
Am Simeonsplatz in Minden, April 2005 Die Ehrung von Agartz war vor drei Jahren vom DGB angeregt worden. Bis dahin hatte im Stadtbild nichts an Agartz und den Umstand erinnert, dass Minden zwischen Herbst 1945 und Sommer 1947 Sitz der Vorläuferorganisationen des Bundeswirtschaftsministeriums gewesen ist. Der regionale Gewerkschaftsdachverband hat bei seinem Wiedergutmachungsakt zugleich an Agartz große Verdienste beim Wiederaufbau der Gewerkschaften in der Bundesrepublik erinnert. (Siehe MT vom 7. November 2001, 13. November 2004 und 7. Dezember 2004) Der marxistische Wirtschaftstheoretiker Agartz war vom konservativen Lager erbittert bekämpft und in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von SPD und Gewerkschaften fallen gelassen worden.
******************** Manuskript Kossack/Mai 2005 mit Ergänzungen Juli 2007, leicht gekürzt unter der Überschrift „Gegen Demontage der Betriebe vorgegangen – Minden erinnert an einen unbequemen Vordenker“ im Minden Ravensberger 2006 erschienen. Erinnerung an unbequemen Vordenker Straßenzug in Minden nach Dr. Viktor Agartz benannt Im Dezember 2004 beschloss der Mindener „Ausschuss für Bauen, Umwelt und Verkehr“, eine neue Zufahrt zum Simeonsplatz nach Viktor Agartz (1897 – 1964) zu benennen. Der promovierte Ökonom war nach 1945 im SPD-Parteivorstand für Wirtschaftsfragen zuständig. Im Oktober 1945 hatten die Engländer bei der britischen Kontrollkommission in Minden einen so genannten Wirtschaftsrat als deutsches Beratergremium ins Leben gerufen. Dieses Gremium wurde im Frühjahr 1946 zur zentralen deutschen Wirtschaftsbehörde für die britisch besetzte Zone erweitert. Auf Drängen des SPD -Vorsitzenden Kurt Schumacher hatte Agartz im Wirtschaftsrat zunächst das Amt eines Generalsekretärs angenommen und wurde im April 1946 zum Leiter des neu gebildeten Zentralamts für Wirtschaft (ZAW) ernannt. Nach Gründung der Bizone (Zusammenfassung der Wirtschaftsgebiete der britischen und amerikanischen Besatzungszone) rückte das ZAW unter dem Namen Verwaltungsamt für Wirtschaft (VAW) zum wirtschaftlichen Leitungsgremium in der Bizone auf. Die Länderwirtschaftsminister aus beiden Besatzungszonen hatten Agartz im Januar 1947 zum Leiter des VAW gewählt. Das VAW hatte in Minden seinen Hauptsitz am Simeonsplatz, sowie weitere Abteilungen in den Melitta-Werken und in den ehemaligen Mudra– und Beseler Kasernen. In der Behörde waren in der Weserstadt zuletzt ca 2000 Mitarbeiter beschäftigt. Das VAW wurde als Vorgängerorganisation des heutigen Bundeswirtschaftsministeriums zwischen Sommer 1947 und Frühjahr 1948 aus Minden nach Frankfurt/Main umgesiedelt.1 Die Ehrung für Agartz wurde im September 2001 vom DGB-Region Ostwestfalen/Bielefeld angeregt. Bis dahin hatte im Stadtbild nichts an Agartz und den Umstand erinnert, dass Minden nach dem Krieg zeitweilig Wirtschaftshauptstadt gewesen ist. Bauernopfer im Kalten Krieg Agartz Amtsführung war nicht von Dauer. Als er zum Leiter des VAW gewählt wurde, ließ General Lucius D. Clay, stellvertretender Militärgouverneur für Deutschland, erklären, dass es „Dr. Agartz nicht gestattet sein würde, … die Sozialisierung der Industrie in der amerikanischen und britischen Zone durchzuführen“.2 Das Mindener Amt verlor daraufhin von den Briten vorher gewährte Entscheidungsbefugnisse (die amtierende Labour -Regierung hatte eine Sozialisierung der Schwerindustrie in Aussicht gestellt), und wurde zur „reinen Verwaltungsbehörde“ (Agartz). Bereits im Dezember 1946 hatten die Amerikaner den Paragraph 4 der Hessischen Verfassung annullieren lassen, der eine von 72 Prozent der Wähler geforderte Sozialisierung der Grundstoffindustrie, Energiewirtschaft und des öffentlichen Verkehrs vorsah. Agartz hielt im Mai 1946 beim ersten Nachkriegsparteitag der SPD das wirtschaftspolitische Grundsatzreferat. Vor dem Hintergrund der im Nationalsozialismus offen zutage getretenen Verbindung von Politik und Wirtschaft skizzierte er eine zukünftige Wirtschaftsverfassung wie folgt: „An die Stelle des privatkapitalistischen Gewinnstrebens hat die staatliche Planung zu treten. Über den Umfang und über die Richtung der Produktion darf zukünftig nur noch der demokratische Rechtsstaat entscheiden. (Agartz war ein überzeugter Anhänger der Gewaltenteilung und des Mehrparteiensystems, der Verf.). Die dezentralisierte Planung muss dabei immer von unten nach oben gehen, unter Einbau marktwirtschaftlicher Elemente.“3 Agartz schied im Mai 1947 wegen schwerer Erkrankung (Hungerödeme) aus seinem Amt aus. Er hatte aus Protest gegen die unzureichenden Lebensmittelzuteilungen alle ihm persönlich von alliierter Seite angebotenen Sonderrationen mit den Worten abgelehnt: „Ich repräsentiere die hungernden Kumpel an der Ruhr“. „Nicht zuletzt seine Demonstration veranlasste die Besatzungsmächte, die Rationen für die deutsche Bevölkerung beträchtlich zu erhöhen“, meint Dieter Posser4. Nach seiner Genesung war Agartz 1949 vom damaligen DGB-Vorsitzenden Hans Böckler zum Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts beim DGB (WWI) ernannt worden und in dieser Position bis Mitte der 50er Jahre maßgeblich an der Politik der Gewerkschaften beteiligt. Die von den Amerikanern in den Nachkriegsjahren durchgesetzte Restauration des Kapitalismus in den Westzonen und die Kräftekonstellationen der 50er Jahre im Kalten Krieg zwischen Ost und West stoppten alle gesellschaftspolitischen Visionen der westdeutschen Linken. Agartz hat dies beim Gewerkschaftskongress 1954 wie folgt resümiert: „Deutschland war in seiner Entscheidungsbefugnis nicht frei. ... Man soll nicht immer nur nach Osten schauen mit der Behauptung, die Regierung der DDR würde von russischen Panzern gedeckt. Die Struktur und die Ordnung der westdeutschen Wirtschaft sind sicherlich in gleicher Weise auf den Bajonetten der westlichen Besatzungsmächte geformt worden.“5 Die Wahlniederlagen der SPD und der im Gefolge des Ost-West Konflikts grassierende Antikommunismus sorgten im linken Lager für Anpassungsdruck. Agartz verkörperte nach dem Tod von Böckler (1951) und Schumacher (1952) die letzte Symbolfigur des demokratisch-gewerkschaftlichen Aufbruchs der Nachkriegsjahre. Damit wurde er für konservative Kreise innenpolitisch zum Hauptfeind bzw. von einer wachsenden Zahl anpassungswilliger Kräfte in den eigenen Reihen als Bauernopfer auserkoren. Der DGB-Bundesvorstand schickte Agartz im Dezember 1955 in den „Ruhestand“, obwohl „in diesen Wochen bei den unteren und mittleren Funktionären die Stimmung völlig auf der Seite von Agartz (war)“, so Theo Pirker, ein Mitarbeiter von Agartz im WWI.6 In der zweiten Hälfte der 50er Jahre geriet Agartz vollends unter die Räder des Kalten Kriegs. Zusammen mit vormaligen Mitarbeitern (Horn und Pirker) und DDR-Dissidenten (Abendroth, Hofmann und Kofler) rief er 1956 die „Korrespondenzen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ (WISO) ins Leben. In dem Periodikum wurden vor allem Gewerkschaftsfragen, allgemeine marxistische Theorie und Stalinismuskritik erörtert. Ein „Förderabo“ des FDGB (DDR) sorgte 1957, wo nach dem KPD-Verbot jeder Kontakt zur DDR kriminalisiert wurde, für Agartz` Verhaftung und Anklage wegen Hoch- und Landesverrats. Nach einem „Freispruch zweiter Klasse“7 wurde Agartz im Dezember 1958 zunächst aus der SPD und im Januar 1960 aus dem DGB ausgeschlossen. Seines „Förderabo“ vom FDGB ging Agartz 1961 verlustig. In der Zeit der gegen ihn gerichteten Ausschlussverfahren hatte er versucht eine neue USPD zu gründen. Er gab das Projekt auf, nachdem die DDR freundliche Deutsche Friedensunion darin das Übergewicht errungen hatt. Agartz ist im Dezember 1964 in Köln verstorben und war am Schluss nur noch publizistisch tätig. Bleibende Verdienste Agartz Erfolge beim Widerstand gegen die Demontagepolitik sind in allen politischen Lagern unbestritten. Beim SPD-Parteitag im Mai 1946 hatte er kritisiert, dass durch den „Industrieplan“ der Besatzungsmächte „Millionen deutsche Menschen sterben“ oder dauerhaft alimentiert werden müssten. Die Demontagepolitik entzöge dem Arbeiter seine wirtschaftlichen Existenzgrundlagen. Agartz hatte von Minden aus Streiks und Demonstrationen gegen den Abtransport von Fabrikanlagen organisiert und auf diese Weise, allein in NRW, die Zahl der ursprünglich zur Demontage vorgesehenen Betriebe von 1800 auf 294 verringern können.8 Trotz jahrzehntelanger Stigmatisierung stehen Agartz Verdienste um die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung bei objektiver Betrachtung außer Frage. Als Wirtschaftstheoretiker hat er insbesondere die Programmatik mitgeprägt, daran hat der DGB-Region Ostwestfalen/Bielefeld in seiner Begründung erinnert. Zum Beispiel sind die von Agartz 1953 entwickelten Thesen zur „expansiven Lohnpolitik“ bis heute richtungweisend. Agartz hatte darin die Bedeutung von Lohnzuwächsen für die Wirtschaftskonjunktur offensiv thematisiert. Investoren hätten nicht nur Kosten, sondern ebenso Absatzerwartungen im Auge. Zusammen mit einer antizyklischen Finanzpolitik könnten ausreichende Lohnzuwächse die Binnenmarktnachfrage und die Beschäftigung steigern helfen. Es bleibt zu hoffen, dass die Namensgebung in Minden ein bisschen dazu beitragen kann, dass die längst überfällige Rehabilitierung von Agartz auch vom DGB als Gesamtorganisation realisiert wird. Anmerkungen Zur Zeitgeschichte siehe auch: „Der Spiegel“ 3/1959: „Agartz, Die Rache“ |