Sinto-Verfolgung

Sinto-Verfolgung in Minden

In der neuen MT-Serie „Mindener Sinti in der NS-Zeit“ wird die Geschichte einer Minderheit beleuchtet, die bislang nur geringe Beachtung fand. Gleichwohl waren die Betroffenen in der Zeit der Nazi-Herrschaft massiven Repressalien ausgesetzt.

 

Links zur Serie „Mindener Sinti in der NS-Zeit“ im

„Mindener Tageblatt“ vom 4.12.2010
Vorurteile auch nach dem Ende der Nazis - Lebensweise von Sinti sorgt in Minden für Argwohn der Behörden / Unter Generalverdacht der Polizei
In der Nachkriegsbundesrepublik war das Handeln der Behörden gegenüber Sinti und Roma weiter auch von rassistischen Vorurteilen bestimmt. So wurde die ethnische Gruppe im Zuge von Wiedergutmachungsverfahren einer pauschalen Kriminalisierung unterworfen.
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„Mindener Tageblatt“ vom 27.11.2010
Nicht einmal die Hälfte überlebte das KZ - 14 Mindener Sinti verlieren in Auschwitz das Leben / Zuletzt noch gegenüber den Mördern Widerstand geleistet.
Von bislang bekannten 25 nach Auschwitz verschleppten Mindener Sinti kamen 14 im Vernichtungslager um. Die Überlebenden berichteten später von den Mordaktionen der NS-Verbrecher. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 16.10.2010
Sammeln vor dem ehemaligen Amtsgericht - Behörden setzen „Lösung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus“ in die Tat um / Transport nach Hannover
Im Gebäude an der Kampstraße befand sich im Zweiten Weltkrieg das Mindener Amtsgericht. Vor dem Untersuchungsgefängnis mussten sich die Deportieren versammeln. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 18.09.2010
Behörde wird zum Handlanger des Hasses – Sinti-Familien bemühen sich vergeblich um Hauskauf an der Videbullenstraße / Verbotsschilder am Kinderspielplatz
Ressentiments in Teilen der Mindener Bevölkerung gegenüber in der Stadt ansässigen Sinti wurden durch die Rassenpolitik der Nationalsozialisten verstärkt. Vor diesem Hintergrund sahen sich Behörden zu Maßnahmen im noch gesetzlichen Rahmen veranlasst. Dabei wurde das Maß des Zulässigen um alle Sondervorschriften erweitert, die bereits gegen Juden angewandt wurden – bis hin zum Mord. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 21.08.2010
Fronteinsatz oder KZ als einzige Wahl - Nationalsozialisten stecken Mindener Sinti nach Entlassung aus Wehrmacht ins Strafbataillon / Angehörige verschleppt
Etliche Mindener Sinti wurden im Zweiten Weltkrieg in den deutschen Streitkräften eingesetzt. Während die NS-Machthaber zunächst Vorbehalte aus rassistischen Gründen hatten, griffen sie gegen Kriegsende verstärkt auf Mitglieder dieser Volksgruppe zurück. Mitunter standen die Männer als Soldaten an der Front, während ihre Angehörigen in Konzentrationslagern ermordet wurden. Familienangehörige von Friedrich Müller weisen darauf hin, dass Heinz Müller, anders als im Artikel zu lesen, nicht der Neffe sondern ein Halbbruder von Friedrich Müller war. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 03.07.2010
Robert Ritter sortiert die Bevölkerung – Nach Sichtung durch NS-Behörden geraten sechs Mitglieder der Mindener Familie Strauss auf die Auschwitz-Liste.
Mit tödlicher Konsequenz auch für Mindener Sinti endete die pseudowissenschaftliche Rassenforschung der Nazis. Für viele hatten die Untersuchungen von Robert Ritter weitere Maßnahmen der NS-Bürokratie zur Folge – bis hin zur Deportation nach Auschwitz. Nach Sichtung durch NS-Behörden geraten sechs Mitglieder der Mindener Familie Strauss auf die Auschwitz-Liste. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 05.06.2010
Nach der Flucht im Widerstand aktiv – Mindener Schausteller entzieht sich rassenpolitischen Maßnahmen der Nazis und taucht in Italien unter
Das Schicksal des Kurt Steinbach zeigt, dass sich Sinti während der Verfolgung in der NS -Zeit nicht in ihre Opferrolle fügten, sondern durchaus Widerstand leisteten. Nicht zuletzt auch einzelne Vertreter deutscher Behörden erwiesen sich gegenüber den rassenpolitischen Forderungen immun. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 15.05.2010
Mobilität unter Lebensgefahr – Mindener Sinti fallen Festsetzungserlass der SS zum Opfer / Erkennungsdienstliche Behandlung
Die Machthaber im NS-Staat schränkten die Bewegungsfreiheit von Sinti und Roma massiv ein. Wer gegen die Auflagen der Behörden verstieß, musste mit Gefahr für Leib und Leben rechnen. Nachdem der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler im Juni 1936 zugleich zum „Chef der deutschen Polizei“ ernannt worden war, wurde die „Bekämpfung des nomadischen Zigeunertums“ in Deutschland zentralisiert. Link zur
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Siehe auch den MT-Leserbrief von Wolfgang Gretzinger zum Schicksal des Mindener Sinto Heinrich Kreuz.

„Mindener Tageblatt“ vom 24.04.2010
Auf rassische Sichtung folgt Sterilisation – Ehemaliges Gesundheitsamt als Schauplatz des Rassenwahns / NS-Ärzte selektieren Bevölkerungsteile
Der Rassenwahn der Nationalsozialisten führte auch in Minden dazu, dass Sinti sterilisiert wurden. Die Behörden setzten in der Stadt den Auftrag um, die Fortpflanzung einer als "volksschädlich" stigmatisierten Gruppe zu unterbinden. Das Haus Marienstraße 70 war zwischen 1937 und 1980 der Sitz des Gesundheitsamtes. Hier wurden Sinti zur "rassischen Sichtung" vorgeführt. Experten der nationalsozialistischen Gesundheitsfürsorge entschieden über ihre Sterilisation. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 27.03.2010
Behörden verschärfen Lebensbedingungen – Abschiebepraxis weicht in der NS-Zeit der Konzentration von Sinti an festen Orten / Berufsausübung behindert.
Die behördlichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Sinti und Roma wandelten sich in der NS-Zeit von der Abschiebung zur Konzentration an festen Orten. Vor der Stadt Minden wurde ihnen damit ein fester Sammelplatz zugewiesen – die sogenannte „Aminghauser Siedlung“. Link zur
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„Mindener Tageblatt“ vom 26.02.2010:
Als Minderheit gering beachtet – Sinti werden im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu Bürgern der Stadt Minden.
Mit dem Begriff „Zigeuner“ sind seit Jahrhunderten Vorurteile verknüpft. Sinti und Roma gingen, von Ort zu Ort ziehend, als Handwerker, Händler, Musiker oder Schausteller ihrem Beruf nach. Zugleich existierte das Klischee, sie seien arbeitsscheu, feige und lebten vom Diebstahl und anderen Betrügereien. Link zur
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Achtung: Artikel, Fotos und sonstige Informationen aus dem MINDENER TAGEBLATT / MT-ONLINE sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht ohne Einwilligung der Chefredaktion verwandt werden.

 

Dokumente und Fotos

Familie Winterstein vor ihrem Wohnwagen (Wurdi) am am Königswall um 1932.

Marseli Winterstein, der die Fotos von seiner Familie und von der Familie Wiegand zur Verfügung gestellt hat, ist 2007 in Minden verstorben. Unten von rechts nach links sitzend: Marseli Winterstein, Cousine Leila (Elisabeth), Bruder Wilhelm, Mutter Apolonia Winterstein geb. Weigand, Bruder Rigo, Söni Georg (Vetter von Apolonia Winterstein), stehend: Vater Adam Winterstein und Otthilie Schmitz, geb. Wiegand (Schwester von Apolonia Winterstein).

 

Anti-Zigeuner Verordnungen (Staatsarchiv STAH in der Akte Polizeibehörde II 455)

 

BescheinigungSteinbach300

Steinbachs Beglaubigungsschreiben von den Partisanen (Privatbesitz Marseli Winterstein)

 

Rassendiagnose nach „Zigeunerforscher“ Dr. Robert Ritter

 

„Rassendiagnose“ nach Ritter (KAM, Stadt MindenGII, Nr. 385)

 

Rassenh.ForschungsstelleGutachten400

„Zigeunerforscher“ R. Ritter von der Rassenhygienischen Forschungsstelle stuft Erna Lauenburger als „Zigeunermischling“ ein. Ritters Gutachten wird zum Todesurteil, denn „Zigeunermischlinge“ (ZM) fallen im Januar 1943 unter den Auschwitzerlass.
Quelle: Landesarchiv Magdeburg, Zigeuner-Personalakten, ZP 420, Blatt 16

 

Nach Verweigerung des Kriegsdienstes erst im KZ und danach im Strafbataillon gelandet

Trupp 11 aus Ottersberg-kk048

 

Trupp der Panzerabwehrabteilung 41/6.PD, in der Bildmitte unten hinter dem Schild „Trupp 11“ befindet sich Friedrich Müller. Foto: Privatbesitz David Hennig

Der Mindener Sinto Friedrich Müller (geb. 25.9.1915, gest. 22.1.1993) wurde 1937 Soldat. Zur Ausbildung war er bis 1939 beim IR45 in Marienburg stationiert. 1939 wurde er zur Panzerabwehr Abt. 41/6.PD nach Ottersberg bei Bremen versetzt. Nach Begutachtung durch einen so genannten „Zigeunerforscher“ (Dr. Robert Ritter), sollte er im Krieg zum März 1941 aus rassischen Gründen aus der Wehrmacht entlassen werden. Dennoch kam er noch beim Einmarsch in Russland zum Einsatz und wurde dort im Juli 1941 verwundet. Bei einem Besuch in Minden nach seinem Lazarettaufenthalt erfuhr Müller, dass seine Schwester und ein Halbbruder ins KZ gekommen waren. Daraufhin verweigerte er den weiteren Kriegsdienst und erklärte: Man könne ihm nicht zumuten, „für ein System zu kämpfen, das die Zigeuner verfolgt“. Eine Verurteilung wegen „Fahnenflucht“ zu sieben Jahren Zuchthaus war die Folge und Müller verblieb von 1942 bis 1944 in einem Moorlager im Emsland in Haft. Wegen der katastrophalen militärischen Entwicklung für Nazi-Deutschland gehörte Müller 1944 zu jenen KZ-Häftlingen, die zur „Bewährung“ ins Strafbataillon 500 gesteckt wurden. Er geriet nach drei Monaten, erneut in Russland im Einsatz, bei Tarnopol in Kriegsgefangenschaft und konnte erst 1949 wieder nach Minden zurückkehren.
Sein Antrag auf Anerkennung als politisch Verfolgter des NS-Regimes wurde 1953 in Minden abgelehnt. In seiner „Begründung“ schiebt der Kreis-Anerkennungsausschuss alle Aussagen von Müller einfach beiseite und behauptet zynisch: „Nach Einsichtnahme in das seinerzeit gefällte Urteil ist der Antragsteller auf dem Wege zur Front zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der Vorstand der Strafanstalt Emsland bescheinigt am 19.7. 1949 auch, dass Müller am 10. 9. 1942 dem Strafgefangenenlager in Emsland zugeführt worden ist. Dafür, dass die Fahnenflucht aus weltanschaulichen Gründen begangen ist, liegen keinerlei Anhaltspunkte vor.“ Eine vorliegende schriftliche Bestätigung von der Mindener Kripo, dass Müller am Anfang des Kriegs in Minden von Mitarbeitern der „Rassehygienischen Forschungsstelle Berlin“ als so genannter „Vollzigeuner“ eingestuft wurde und nun unter die „Zigeunerbestimmungen“ fiel, wertete der Ausschuss als „Erinnerungsschreiben“ ab. (Quelle: Kommunalarchiv Minden A.f.W.50/503) Ohne es explizit zu benennen, wurde Müller im Ausschuss so zum Opfer der damals in der BRD vorherrschenden „Rechtsauffassung“, wonach Sinti und Roma angeblich erst ab Himmlers Auschwitzerlass vom Dezember 1942 politisch verfolgt sein sollten.
Kossack, Minden Sept. 2012

 

Quelle der nachfolgenden 3 Bilder:
 Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Heidelberg, 2003, Bundesarchiv/Dokumentationszentrum.

Seite61-AllgemeineHeeresmitteilungen-400

Ausschließungsschein aus der Wehrmacht von Christian Weiß

 

Seite62-Ausschluss-400

„Fälle, in denen festgestellt wird, dass Zigeuner und Zigeunermischlinge noch in der Wehrmacht stehen, werden der Partei-Kanzlei ... laufend mitgeteilt“.

 

Seite63-ÜberführungAuschwitz-400

„L. wurde am 11.3.1943 in das polizeiliche Arbeitslager Auschwitz überführt“

Internet-Tipp: Siehe auch Wikipedia – ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten in allen Sprachen der Welt.
Dank einer Spende des Bundesarchives steht eine Reihe von Bildern zu Sinti und Roma und ihrer Verfolgung im Dritten Reich zur Verfügung, deren naive Verwendung sich aufgrund der Bildinhalte, der Entstehungsgeschichte und Überlieferungsgeschichte der Bilder verbietet.
Ein Großteil der Bilder stammt aus dem sogenannten "
Nachlass Robert Ritter".

 

Sinti Ausgrenzung im Alltag

 

Protestschreiben der Firma Homann (KAM, M30 357)

 

Schreiben der NSDAP zum „Schutz“ der deutschen Frauen.
(LAV NRW OWL M 1 I P Nr. 1578)

 

Im Verlauf des Kriegs wurden vor allem so genannte Zigeunermischlinge analog zur Endlösung der Judenfrage aus dem Deutschen Reich nach Osten deportiert. Himmlers Auschwitzerlass ist am 16. Dezember 1942 ergangen. Danach sollten die letzten, etwa noch 10 000 in Deutschland lebenden „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner, nicht-deutschblütigen Angehörigen zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in den folgenden Monaten nach Auschwitz verschleppt werden.

 

Deportation nach Auschwitz

Am ehemaligen Amtsgericht in der Kampstraße sind die Mindener Sinti zusammen geholt worden, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden.

Amtsgericht in der Kampstraße (Foto: Verfasser)

 

StaatsArchivDetmold-M1IP1578-Einweisung

Dokument von der Kripo in Hannover
(LAV NRW OWL M 1 I P Nr. 1578)

 

Bisher bekannte Mindener Sinti, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern ihr Leben lassen mussten:

Alexander und Otto Strauß
Johanna, Mimi und Franz Grannemann
Heinrich Kreuz
Fritz Wagner
Rudolf Weiß
Maria-Elisabeth und Stephan Wiegand
Anna, Rudolf, Maria und Berta (Rosa) Weiß
Heinz Müller
Willi Wenig.

Quellen: Landesarchiv NRW – Abteilung Ostwestfalen-Lippe – M 1 I P Nr. 1578; Kommunalarchiv Minden, H30 357 und Wiedergutmachungsakten, Gedenkbuch Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Herausgeber Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, München.London.New York.Paris 1993

Der größte Teil der oben genannten Sinti kam nach Auschwitz, nachdem sie vor dem Abtransport über Hannover am 3. März 1943 von der Mindener Kripo beim ehemaligen Amtsgericht in der Kampstraße (Vergleiche „Sammeln vor dem ehemaligen Amtsgericht“ in: MT vom 16. Oktober 2010) zusammengeholt worden waren. Hinweistafeln oder Gedenksteine, die es in vielen deutschen Städten gibt (Vergleiche nachstehenden Hinweis aus dem Newsletter des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, Januar/2011) sucht man in Minden bisher vergeblich.

Aus: Newsletter des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland.
Gedenkorte für Sinti und Roma
In der Bundesrepublik Deutschland sind bis heute etwa hundert Gedenkorte für die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Sinti und Roma entstanden. Hinzu kommen weitere Gedenkorte im benachbarten europäischen Ausland. Die neue Internetdatenbank hat sich zum Ziel gesetzt, einen ersten systematischen Überblick über die bislang realisierten Gedenkorte zu vermitteln.
Weitere Informationen:
http://www.gedenkorte.sintiundroma.de.

Zur Haltung der Sinti und Roma zum Stolpersteinkonzept siehe die Stellungnahme des Zentralrats auf der Unterseite: Diskurs über Stolpersteine in Minden.

 

Sterbeurkunde von Maria Wiegand

 

Foto der Familie Wiegand

Das 1922 in Minden aufgenommene Foto zeigt unten von rechts nach links: Otthilie Wiegand, später verheiratete Schmitz, Heinrich Wiegand, Heida Wiegand, geb. Weiß (in Auschwitz umgekommen); dahinter stehend Wilhelm Wiegand (in Auschwitz umgekommen), Moka Wiegand, die Tochter von Heida und Wilhelm Wiegand (in Auschwitz umgekommen), Elisabeth Maria Wiegand (in Auschwitz umgekommen), dahinter stehend Johannes (Laurentius) Wiegand (mit Hut), Stephan Wiegand (in Auschwitz umgekommen), dahinter stehend Apolonia Wiegand, später verheiratete Winterstein.

Über die in Minden verbliebenen Sinti hatte Flessner erklärt: „Bleiben durften nur die reinrassischen Zigeuner von der Sippe M., K. und L.“ Diese Aussage trifft nur zum Teil zu. Marseli Winterstein wies z.B. darauf hin, dass auch seine Familie von Ritter als „reinrassig“ eingestuft und nicht deportiert worden ist. Der Vater Adam Winterstein habe in Minden bis zum Kriegsende weiter als Lastwagenfahrer gearbeitet. Auch verschiedene als „Zigeunermischling“ eingestufte Mindener Sinti waren von der Deportation nach Auschwitz ausgenommen worden. Vermutlich wurde der chronische Arbeitskräftemangel des Regimes von den lokalen Verfolgungsbehörden als zusätzliches Kriterium bei der Umsetzung von Himmlers „Auschwitzerlass“ berücksichtigt. Die meisten Mindener Sinti, die nicht nach Auschwitz kamen, sind im Frühjahr 1944 vom Arbeitsamt dem so genannten OT-Lager Störmede bei Lippstadt zugewiesen worden. Die Einweisung von „wehrunwürdigen Personen“ in Arbeitslager der Organisation Todt erfolgte erneut auf Verfügung Himmlers.

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Schlafboxen in einer Baracke im sogenannten "Zigeunerlager" von Auschwitz, entnommen aus: Romani Rose (Hrg.) Der Nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma - Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Seite 63, Heidelberg, 2003.

 

Nach dem Krieg: Grauzone zwischen Ausgrenzung und Duldung

Mit der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945 ist zugleich die „Zigeunergesetzgebung“ in ihrer völkisch-nationalsozialistischen Variante aufgehoben worden. Nicht aufgehoben oder überwunden sind aber tradierte Vorurteile gegen Sinti und Roma und die Tatsache, dass bisher hierzulande keine andere Minderheit in vergleichbarer Weise bei Aufklärung und Wiedergutmachung „vergessen“ wurde und wird.

Artikel aus der „Freien Presse“ vom 23.12.1949 / Nr. 199

Im obigen Artikel in der "Freien Presse" vom 23. Dezember 1949 ist unter anderem zu lesen:

"Minden beherbergt seit Jahrzehnten eine Anzahl von Zigeunerfamilien in ihren Mauern. Bis zum Jahre 1945 war das Verhältnis zwischen diesen und der einheimischen Bevölkerung einigermaßen erträglich, da die Zigeuner bemüht waren , sich in die für ein Zusammenleben notwendige Ordnung einzufügen. Das ist nach 1945 völlig anders geworden. (Redaktionelle Hervorhebung, siehe auch die Anmerkung unten) Der Zustrom neuer Zigeunerfamilien ist so groß, dass Straßen und Plätze der Stadt oft geradezu von Wohnwagen übervölkert sind. Vielfach sind es auch gerade stadteigene Häuser, in denen die Neuankömmlinge Unterschlupf suchen und finden. Die Frage des Zuzugs und der polizeilichen Meldung sollte hier besondere Beachtung finden. Diese Menschen müssen und sollen selbstverständlich als Menschen behandelt werden und Obdach finden. Über das 'Wie' sollte sich die Stadtverwaltung aber im Interesse der Gesamtbevölkerung einmal ernstlich Gedanken machen. Unhaltbare Zustände, auf die die Stadtverwaltung wiederholt aufmerksam gemacht worden ist, können und dürfen nicht geduldet werden. Ein Gang durch die Altstadt (Oberstadt) zur späteren Abendzeit dürfte für die Stadtvertreter und die zuständigen Amtsstellen (Ordnungsamt) sehr aufschlussreich sein."

Anmerkung:
Unabhängig von der berechtigten Forderung, dass in jeder zivilen Gesellschaft auch für Minderheiten Gesetze allgemein gelten und insbesondere kein Recht auf gewaltsame Konfliktaustragung bzw. Selbstjustiz existiert, wird mit obiger Stellungnahme in der sozialdemokratischen "Freien Presse" die NS-Verfolgungspraxis gegen Sinti und Roma implizit als vorbildlich hingestellt. Der
Kommentator hatte anscheinend schon 1949 wieder vergessen, dass Mindener Sinti ab 1943 in Auschwitz ermordet und in verschiedene Zwangsarbeiterlager der Organisation Todt verschleppt worden sind.

 

Nächtliche Schmierereien am Sinti-Zentrum in Quetzen / Polizei schaltet Staatsschutz ein
Bericht im „Mindener Tageblatt“ vom 5. Juni 2009
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Verwendete Literatur
Romani Rose (Hrg.) Der Nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma - Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg, 2003
Gedenkbuch Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Herausgeber Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, München-London-New York-Paris 1993
Karin Reemtsma, Sinti und Roma. Geschichte Kultur und Gegenwart, Augsburg/München 1996
Otto Daettwyler/Mateo Maximoff, Tsiganes, Zürich 1959
Michael Zimmermann, „Verfolgt, vertrieben, vernichtet“, Essen 1989
Reimar Gilsenbach, Oh Django, sing deinen Zorn, Berlin 1993
Projektgruppe Kriegsgräber der Europaschule Rövershagen, Aber es ist nie darüber gesprochen worden – Sinti und Roma als Feldgraue in beiden Weltkriegen
Zu Minden: Kristan Kossack, Verfolgung Mindener Sinti durch das NS-Regime, Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins Jahrgang 72, 2000

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Überregionale Empfehlung:
Jugendliche und zwei LehrerInnen der Projektgruppe "Kriegsgräber" der Europaschule Rövershagen beschäftigen sich seit 2011 außerhalb des Unterrichts im Rahmen des Projekts "Rom heißt Mensch" mit der Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei beleuchteten sie insbesondere die Situation der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. In Zusammenarbeit mit Museen, Gedenkstätten, der TU Berlin und Vereinen recherchierten die Jugendlichen in Archiven, sichteten Literatur, Zeitungen, Filme und suchten im Internet nach Fotomaterialien und Dokumenten. Ergebnis der Arbeit gegen das Vergessen und Verdrängen sind eine Ausstellung und ein Buch "Aber es ist nie darüber gesprochen worden – Sinti und Roma als Feldgraue in den beiden Weltkriegen".
Mehr zur Schule und den Projekten im
Internet

 

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