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Entnazifizierung im Schonwaschgang auch in Minden Deutsche Kriegsverbrecher und aktive Nazis sollten nach dem Krieg „entnazifiziert“, das heißt bestraft und aus dem öffentlichen Leben verdrängt werden. Die „Entnazifizierung“ war von den Militärbehörden begonnen worden und lag später in NRW zwischen 1947 bis 1951 weitgehend in deutschen Händen. Unter dem Strich wurden in ganz NRW nur 90 „Hauptschuldige“ und „Belastete“ gefunden, die zunächst in der Hand der Militärregierung verblieben. Als „Minderbelastete“ wurden 33.531 Personen eingestuft, als „Mitläufer“ 159.630 Personen sowie als „Entlastete“ 624.568 Personen. (Zahlen aus: Politik und Alltag im Gründungsjahr Nordrhein-Westfalen, Ausstellung des Landesarchivs und des Landtags 2006). Die Kategorisierung nahmen lokale „Entnazifizierungsausschüsse“ vor, in denen keine Nazis sitzen und die „weder gesellschaftlich noch politisch einseitig zusammengesetzt“ sein sollten. (Vgl. Justizminister am 15. Dezember 1947 an Landrat, KAM, Kreis Minden 10, Nr. 126) Laut Bericht des Amtes für Entnazifizierung beim Kreis Minden sind hier bis zum 31. März 1949 insgesamt 15.972 Personen „entnazifiziert“ worden. Davon wurden 539 Personen als „Minderbelastete“ (Kategorie 3), 1.882 Personen als „Mitläufer“ (Kategorie 4) und 13.551 Personen als „Entlastete“ (Kategorie 5) eingestuft. So genannte Hauptschuldige der Kategorie 1 („Kriegsverbrecher“) und der Kategorie 2 („Belastete“) wurden im Kreis Minden nicht ermittelt. (KAM, Bestand Kreis Minden 10, Nr. 127). Das von der Landesregierung geschaffene Amt des „Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung in NRW“ wurde im September 1951 aufgelöst. Es hatte bis dahin mit den Militärbehörden über die Ausgestaltung der „Entnazifizierung“ verhandelt und die Ausschussarbeit in den Landkreisen überwacht. Nach dem „Entnazifizierungsschlussgesetz“, das der Bundestag im Mai 1951 verabschiedet hatte, mussten auch so genannte „Minderbelastete“ und „Mitläufer“ nicht länger Sanktionen, wie Beschränkungen des Wahlrechts und der Freizügigkeit, Beschäftigungsbeschränkungen sowie Vermögenssperren, befürchten. (Vgl. Wolfgang Krüger, Entnazifiziert: Zur Praxis der politischen Säuberung in Nordrhein-Westfalen, Seite 68, Wuppertal 1982). Viele Nazis waren schon vor Verabschiedung des „Entnazifizierungsschlussgesetzes“ ungeschoren bzw. glimpflich davon gekommen. Sie hatten bei ihren Vernehmungen vor den Ausschüssen mit Erfolg so genannte Persilscheine vorgelegt, das heißt eidesstattliche Zeugenaussagen von Freunden, Bekannten und Kollegen, die ihre Haltung zum NS-Regime verharmlosen halfen. Es war nicht Sache der Entnazifizierungsausschüsse, „hinsichtlich des Verhaltens der Betroffenen in der Nachkriegszeit Nachforschungen anzustellen.“ Ab dem 1. Juni 1948 durften Entlassungen aus dem Amt aus politischen Gründen nicht länger stattfinden. Ab Februar 1949 konnte eine neuerliche Einstufung stattfinden, wobei das „Motiv der Bewährung“ zum Zuge kommen sollte. Frühere Mitglieder der Allg. SS bis zum „Rottenführer“ und der Waffen SS bis zum „Unterscharführer“ wurden begnadigt. Bei jugendlichen SS Männern, die aus der Internierungshaft entlassen waren, kam eine „Jugendamnestie“ zur Anwendung. (Siehe KAM, Bestand Kreis Minden 10, Nr. 127) Aus Protest gegen die politisch gewollte Denaturierung der Entnazifizierungsausschüsse zu „Mitläuferfabriken“ waren zwischenzeitlich viele Ausschussmitglieder (darunter alle Mitglieder aus der KPD) zurückgetreten.
Der Fall des ehemaligen Melittachefs Horst Bentz Neben Karl Herman Bellwinkel, der als ehemaliger Ankläger am Volksgerichtshof an Terrorurteilen mitwirkte (siehe Artikel im „Mindener Tageblatt vom 11. Mai 2011 / MT-Artikel im PDF-Format), überstand ein weiterer stadtbekannter Naziaktivist, der Melittachef Horst Bentz, die Entnazifizierung besonders glimpflich und wurde zuletzt nur als „Mitläufer“ eingestuft. Bentz, geboren 1904, übernahm 1929 – nach der Übersiedlung des Unternehmens von Dresden nach Minden – die Geschäftsführung bei Melitta. Er war 1933 der NSDAP und der SS beigetreten. In der Allgemeinen SS wurde Bentz laufend befördert und bekleidete ab 1939 den Rang eines Unter- und ab 1942 eines Obersturmführers. 1935 wurde der Melitta-Betriebsführer in Minden zum Ratsherr berufen. Er war ferner 1937 Kreiswirtschaftsberater der NSDAP und „ehrenamtliches Mitglied“ des SD geworden sowie als Arbeitsrichter tätig. (Landesarchiv Düsseldorf, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Bestand NW – 0.6708). Nach Kriegsende wurde Bentz wegen seiner diversen Naziämter im November 1945 von den Briten im Internierungslager Recklinghausen inhaftiert. Vom Spruchgericht Recklinghausen wurde er zu einer Geldbuße in Höhe von 15.000 RM verurteilt und im November 1947 unter Auflagen (Vermögenssperre und Berufsverbot) nach Minden entlassen. (Bundesarchiv Berlin, Z 42 VI/1580) Dass Bentz mit so einer glimpflichen Strafe davon gekommen war, verdankte er dem Umstand, dass er sein konkretes Engagement für die Nazis in der Weserstadt im fernen Recklinghausen erfolgreich verschleiern konnte. Unter anderem wollte er nur „Ehrenmitglied“ der SS gewesen sein und den „Stürmer“ und das „Schwarze Korps“ (SS-Zentralorgan) „nicht gehalten“ haben. Bentz, der sich in Minden besonders gegen Juden ins Zeug gelegt hatte, behauptete bei Vernehmungen im September 1947 dazu beschönigend: „Eine gewisse Reduzierung von Juden in manchen Berufen habe ich für richtig gehalten. Die dann vorgekommenen Ausschreitungen verurteile ich aber ganz entschieden. … In Minden hatten wir wohl nur ein einziges jüdisches Geschäft und das ist nicht zerstört worden.“ (Bundesarchiv Berlin, Z 42 VI/1580) Die „Ehrenmitgliedschaft in der SS“ wurde Bentz wegen seiner mehrfachen Beförderungen nicht abgenommen. In Recklinghausen war aber offenbar keinem Vernehmer die von Bentz finanzierte Melitta-Betriebszeitung bekannt, die von 1936 bis 1944 erschienen war. Darin wurde auch berichtet, dass in der 1937 neu errichteten Werksbücherei der „Stürmer“ und das das „Schwarze Korps“ auslagen. (Melitta-Werkzeitung 3/1937, 7/1937) Über die Zerstörungen jüdischer Geschäfte in Minden beim Novemberpogrom von 1938 wurden, entgegen Bentz` Darstellungen vor dem Spruchgericht, in der „Melitta-Werkzeitung“ Spott und Hetze ausgeschüttet mit der Stoßrichtung, letzte Hemmungen bei der Judenverfolgung zu überwinden. Man konnte auf der Titelseite in der Ausgabe 12/1938 unter der Überschrift „Die ´armen` Juden“ unter anderem lesen: „Hoffentlich haben die Kinder Israels, die noch in Deutschland umherwatscheln, jetzt endlich den einzig vernünftigen Einfall ihres Lebens: dass sie jetzt schnellstens verduften. … In der Judenfrage hat das Herz zu schweigen. Auch das zieht nicht, wenn man uns sagt: denkt an die armen Kinder. Jeder Judenlümmel wird einmal ein ausgewachsener Jude.“ Schon vor dem Novemberpogrom, im Sommer 1938, war in der Melitta-Werkzeitung eine Schwarze Liste erschienen, auf der 30 jüdische Geschäfte in Minden aufgezählt waren und Bentz hatte auf einer Betriebsversammlung persönlich gedroht, dass jeder Mitarbeiter sofort entlassen würde, den man beim Betreten eines jüdischen Geschäftes „erwischt“. (Melitta-Werkszeitung, 5/1938, 8/1938) Wegen des großen Arbeitskräftemangels erhielten gegen Kriegsende die beiden Mindener NS-Musterbetriebe, die Melitta-Werke und die Uniformfabrik Muermann, einzelne „Halbjuden“, die noch nicht deportiert waren, als Zwangsarbeiter zugewiesen. Bentz besaß in Recklinghausen die Chuzpe, sich in diesem Zusammenhang implizit als Helfer von Juden darzustellen und erklärte: Es wäre ihm „als Nichtparteimitglied vollkommen unmöglich gewesen jüdische oder halbjüdische Angestellte zu beschäftigen.“ (Bundesarchiv Berlin, Z 42 VI/1580). Abbildung 1: Auszüge aus „Melitta-Echo“, Im November 1947 nach Minden zurückgekehrt, musste sich Bentz hier vor dem lokalen Entnazifizierungsausschuss verantworten. Obwohl seine Naziaktivitäten und Ämter vor Ort bestens bekannt waren, wurde im Ausschuss weggeschaut und Nachsicht geübt. Schon im Januar 1948 hieß es dort: „Das Unrecht der zweijährigen Inhaftierung muss wieder gut gemacht und dafür gesorgt werden, dass Bentz baldmöglichst volle Bewegungsfreiheit und Verfügung über sein Vermögen erhält.“ Der Ausschuss hatte sich zur Begründung auf vorgelegte Persilscheine und vor allem auf eine Petition gestützt, die Melitta-Mitarbeiter kollektiv zu Gunsten ihres aus Recklinghausen zurückgekehrten Chefs im Dezember 1947 verfasst hatten. In einer Unterschriftenliste versicherten sie: „Politisch ist Herr Bentz niemals aktiv gewesen.“ Ergänzend zu dieser für die Nachkriegszeit typischen Verdrängungsleistung erklärten die Petenten, dass ihr Chef ein besonders „sozialer Unternehmer“ gewesen sei. (Siehe: Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW 1068 – PA 25) Melitta hatte als NS-Musterbetrieb besonders im Krieg soziale Extras gewährt und damit unter Mitarbeitern und ihren Familien mit Erfolg Dankbarkeit gegenüber der „noblen Firma“ geweckt. (Vgl. in der Internetzeitschrift „Kritiknetz“, aufrufbar unter der Kategorie „Faschismus“: Heinz Gess/Werner Dirks/Kristan Kossack, Opa war kein Nazi: Teil II „Melitta - Ein Musterbetrieb?“ und Teil III „Unsere Soldaten schreiben - Die Feldpostbriefe im ´Melitta-Echo`“). Abbildung 2: Urkunde „NS-Musterbetrieb“ und Titelseite aus „Melitta-Echo“, 3/1941.
Abbildung 3: Artikel aus „Westfälische Neuste Nachrichten“ vom 6. Mai 1941. Auf Vorschlag der „Deutschen Arbeitsfront Gauwaltung Westfalen-Nord“ sollten die „Melitta-Werke Bentz & Sohn“ in Minden zum 1. Mai 1943 wieder als NS-Musterbetrieb bestätigt werden. Der Mindener „Denazification-Penel“ stufte Bentz im Februar 1948 als „Mitläufer“ (Kategorie 4) ein. Für das Arbeitsamt Minden erging die Mitteilung: „Eigentum und Konten sind nicht länger zu sperren. Es bestehen auch keinerlei Anstellungssperren“. (Siehe: Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW 1068 – PA 25) Die erstaunlichste Verdrängungsleistung erbrachten später die Stadtoberhäupter von Minden. Sie machten 1964 den Vorschlag, Bentz anlässlich seines 60. Geburtstags mit dem Verdienstordens 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland auszuzeichnen, ohne in der Begründung mit einem Wort auf die Nazi-Vergangenheit des damaligen Melittachefs einzugehen. Nachdem vom NS-Dokumentationszentrum in Berlin auf Bentz Mitgliedschaften in der SS, im SD und seine Rolle als Kreiswirtschaftsberater der NSDAP hingewiesen wurden, zog Stadtdirektor Krieg den Vorschlag der Stadt Minden „auf Wunsch von Herrn Bentz“ zurück. Der Vorschlag der Stadt Minden im Wortlaut als pdf-Datei (Landesarchiv NRW, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, NW – 0.6708). Die Firma Melitta nahm im Jahr 2008 nach wiederholter, öffentlicher Kritik erstmals zusammenfassend zur Firmengeschichte in der NS-Zeit Stellung. Zur Kritik, die vor der Firmenstellungnahme vor Ort laut geworden war, siehe unter anderem: „Mindener Tageblatt“: „´Historische Wahrheit` fürs Museum“, vom 9. September 2004 und „Einblicke in die Arbeitswelt der NS-Zeit“, „Mindener Tageblatt“ vom 28. Januar 2006. Günter Wallraff hatte schon Anfang der 1970er Jahre nach einem Gastspiel bei Melitta mit seinem „Melitta-Report“, von der Lokalpresse damals totgeschwiegen, in überregionalen Medien für Furore gesorgt und mit angeschoben, dass die Gewerkschaften bei Melitta gegen den Willen von Bentz erstmalig ein Bein in den Betrieb bekamen und Tarifverträge durchsetzten. – Vgl. „Brauner Sud im Filterwerk“ in: „Neue Reportagen, Untersuchungen und Lehrbeispiele“, Hamburg 1974. Der frühere Melitta-Betriebsratsvorsitzende Werner Weber verfasste den Aufsatz: „Günter Wallraff bei Melitta oder Was seitdem geschah“, in: „Ansichten der IG-Medien NRW“, Köln 2001) Unter dem Titel „100 Jahre Melitta“ wurde von der „Unternehmensgruppe Minden“ 2008 eine weitgehend abstrakte und weichgespülte Untersuchung der NS-Jahre herausgegeben. Hierin werden etwa Bentz` Falschaussagen bei seinen Vernehmungen nach dem Krieg mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig seine besonderen Aufgaben als ehrenamtlicher Mitarbeiter im „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“, dem SD. Der SD funktionierte nach 1933 zunächst als politische Polizei in der NSDAP und sollte neben Überwachungsaufgaben politische Handlungskonzepte gegen Gegner des Nationalsozialismus entwickeln. Bentz hatte in seiner Funktion als Abwehrbeauftragter des Betriebs, Berichte über politische Betätigung und Sabotage für die Gestapo in Bielefeld zu verfassen. (Bundesarchiv Berlin, Z 42 VI/1580) Im Buch der Firma wird statt einer konkreten Auseinandersetzung mit Bentz` Rolle in der NS-Firmengeschichte die immer wieder strapazierte Behauptung seiner angeblichen Unentbehrlichkeit für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft hervorgehoben und implizit ein Hinwegsehen über seine Naziaktivitäten einseitig mit Rückziehern der Alliierten im Kalten Krieg erklärt. (Vgl. „100 Jahre Melitta“, Herausgeber Unternehmensgruppe Minden, Köln 2008, Seite 59) Kossack, Minden September 2012
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Der Fall Karl Hermann Bellwinkel Im Krieg Ankläger am Volksgerichtshof in Berlin, nach dem Krieg Staatsanwalt in Bielefeld
MT-Thema vom 11.5.2011: Entnazifizierung Vor 60 Jahren – am 11. Mai 1951 – veröffentlichte der Bundestag das
Entnazifizierungsschlussgesetz. Damit blieben „Minderbelastete“ und „Mitläufer“ des NS-Regimes von Sanktionen verschont. In NRW kamen nur 90 Personen zunächst in die
Hand der Militärregierung. Der weitere Umgang lokaler Behörden mit der NS-Belastung ermöglichte auch in Minden Tätern den reibungslosen Neuanfang. Achtung: Artikel, Fotos und sonstige Informationen aus dem MINDENER TAGEBLATT / MT-ONLINE sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht ohne Einwilligung der Chefredaktion verwandt werden.
Dokumente zum Fall Bellwinkel Dokument 1 Urteil des Volksgerichtshofes gegen den Kammermusiker Ernst Fink, Ankläger war Karl-Herman Bellwinkel, Fink ist lt. Homepage des Philharmonischen Orchesters Erfurt hingerichtet worden. Bundesarchiv Koblenz
Dokument 2 Urteil des Volksgerichtshofes gegen Oberstleutnant a.D. Gustav Tellgmann, Ankläger war Karl-Herman Bellwinkel, Tellgmann ist am 26. Februar 1945 hingerichtet worden. 1946: Der Chairman der Militärregierung zum Fall Bellwinkel: „Politisch hervorgetreten, nicht empfohlen“. (Siehe Landesarchiv NRW, NW 1067 Nr.129) 1948: Der Hauptentnazifizierungsausschuss Lübbecke „entlastet“ Bellwinkel (Siehe ebd.) 1980: Strafanzeige der VVN gegen Bellwinkel bei der Staatsanwaltschaft am Berliner Landgericht
Dokument 3 1985: Einstellung aller Ermittlungen gegen Bellwinkel wegen „amts- und klinikärztlicher festgestellter dauernder Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten“. Diese und weitere Dokumente zum Fall Bellwinkel (beim Fink-Urteil mit vollständiger Begründung) sind im Kommunalarchiv Minden in der Bildermappe/Bellwinkel einzusehen.
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